Bildende

10 Jahre Artothek. Rez.: Eva Riebler

Eva Riebler
Originalkunst

 

10 Jahre Artothek
Kunstquartier der Kunstmeile Krems
Steiner Landstr. 3, 2. Stock, 3500 Krems
14./15.09.12

Anlässlich 10 Jahre Artothek und somit 10 Jahre erfolgreichen Bilderverleihs wurden die Kunstankäufe der Sammlung des Landes Niederösterreich gezeigt. Insgesamt 8 der 22 Grafiken der letzten Neuankäufe wurden gerahmt an den Wänden vorteilhaft gehängt und präsentiert. Darüber hinaus fanden die beiden Gemälde von Nadja-Dominique Hlavka, Günther Wieland, jene von Waltraud Palme, Eva Hradil oder die Grafik von Leopold Kogler sowie die fünf weiteren Grafiken, die versteigert werden sollten, großes Interesse. Das Ankaufsteam des Landes NÖ verzichtet auf den Ankauf impressionistischer Aquarelle zugunsten zahlreicher moderner Grafiken, die die Qualität der Leihobjekte in den Vordergrund stellen. Die Kuratoren des Landes und der Artothek verfolgen nicht die unprofessionelle Politik der Anbiederung an das Publikum, im Sinne von "Sie wünschen, wir hängen". Wie viele Nutzer der Artothek meinen, muss heutzutage das ausgeliehene Bild nicht über das Wohnzimmersofa passen, sondern kann dominant eine neue Raumgestaltung verursachen.

Natürlich kommen kleine Serien beim Betrachter meist am besten an, daher verdienen diesbezügliche Ankäufe und Präsentationen im Schauraum großes Lob.

Mit Interviews von LeihnehmerInnen moderner Kunst und Künstlern, die in der Artothek vertreten sind, Kunst-Performance, Musik-Kabarett bzw. wunderbarer Jazzmusik, die extra für diese Feier kreiert worden war, aus der Soundanlage und einem eigenem Kinderprogramm am 15.09. sowie die Versteigerung an diesem Tag von Art-Brut und E. Hradil Grafiken zelebrierte das Team des Kunstquartieres unter der Leitung von Dr. Christiane Krejs dieses Jubiläum.

Die Artothek konnte mit diesem in der Öffentlichkeit hervorragend aufgenommenen und bewerteten Zwei-Tages Fest ihrem Auftrag, das Kunstverständnis für zeitgenössische Werke zu fördern und zu vertiefen, erfolgreich gerecht werden und wird mit vermehrtem Zulauf rechnen dürfen.

LitGes, September 2012

10 Jahre Artothek. Rez.: Eva Riebler

Alex Katz: Werke aus der Sammlung Essl. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
Hot an cold!

   

Alex Katz
Werke aus der Sammlung Essl

Pressekonferenz: 14.09.2012, 10 Uhr
Galerieräume, Essl Museum, Klosterneuburg
Ausstellungsdauer: 15.09. bis 06.01.2012
Kurator: Karlheinz Essl

Zur Ausstellung erschien ein zweisprachiger Katalog (Deutsch-Englisch):
Alex Katz
Hg. Essl Museum

Ins Englische: Dagmar Archan, Edith Drack
Klosterneuburg: Edition Sammlung Essl, 2012. 110 S.
ISBN 978-3-902001-68-9
Museumsshop: € 23.-

Mit dieser Schau wird der 85. Geburtstag von Alex Katz gefeiert. Als Agnes und Karlheinz Essl Ende der 1990er den 1927 in Brooklyn/ New York geborenen Künstler kennenlernten, hatten sie bereits erste Gemälde angekauft. Nun sind es 30 großformatige Gemälde aus einer Schaffenszeit von 30-35 Jahren, die das Sammlerpaar zählen darf und einen guten Querschnitt seiner Themen liefern.

Essl hat wie auch schon bei Anselm Kiefer im Frühjahr 2012 die Ausstellung selbst kuratiert. Er ging dabei nicht chronologisch vor, sondern entschied sich, die Werke Raum für Raum wie in einer Gallerie zu präsentieren. Diese Hängung soll bei den Betrachtern ein inspiratives Gefühl für Katz' Œuvre auslösen.

 
Alex Katz: Black Brook 8
1990, Öl auf Leinwand 213 x 645 cm
© VBK, Wien, 2012
Fotonachweis: Courtesy Jablonka Galerie, Köln
 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Katz' Themen sind Portraits, Society, Tiere und Natur. Sie entspringen immer aus der unmittelbaren Umgebung des Künstlers. Seine Auswahl basiert auf einer langen Vorarbeit seines Unterbewusstseins, bis das Thema, bzw. Motiv eines Tages an Aktualität gewonnen hat: "Beim Malen ist das Wissen meist unbewusst und das Entscheidende ist, das Unbewusste zu nutzen, um den Spielraum festzulegen. Das ist die Idee, die ich mehr oder weniger verfolge. Du kannst es Instinkt nennen. Das ist es." (Zitat: Alex Katz)

Gerade als Katz sein Studium an der Cooper Union School of Arts in New York abschloss (1949) bekam der amerikanische abstrakte Expressionismus u.a. durch Jackson Pollock internationale Anerkennung. Doch Katz wollte nie mit seinen Werken im Trend der Kunstszene sein. Er wollte eine neue Richtung einschlagen, die instabil und bedrohlich ist (S. 72). Natürlich sucht man vergeblich nach Bedrohlichkeiten im Gesamtwerk des freundlichen Amerikaners. Doch instabil und daher irritierend ist es in der Tat. Der 1964 geborene britische Konzeptkünstler Liam Gillick erklärt dies gekonnt nachvollziehbar in seinem Essay "Gestrandet" (Beached: London, Juli 1999), welchen er für eine Katz Ausstellung in Salzburg (1999) schrieb: "Wir stehen immer einer Serie von Bildern gegenüber, die einerseits Momentaufnahmen und andererseits doch losgelöst von einem bestimmten Moment sind." (Zitat Gillick: S. 72) Bei Katz geht es um Präsenz, Zurschaustellung und Präzision. Dennoch sind seine Werke keine fotografischen Darstellungen, vielmehr benennt sie Gillick als detailgenaue Simulation (Gillick: S.71).

Die Simulation in Bezug zur erwähnten Präzision bedarf jedoch genauerer Betrachtung. Hier müssen wir zwischen dem grafischen und dem malerischen Schaffen des Künstlers unterscheiden. Katz, der in seinem grafischen Werk die Präzision als Meisterschaft betreibt, lässt sich in seiner Ölmalerei auf Illusion, bzw. auf eine trickreiche Maltechnik ein, die fortwährend das Ziel hat, das Auge des Betrachters zu betrügen. Bei genauerem Augenschein können wir in Details eine eher grobe Pinselführung entdecken, eine für Katz nahezu ungewohnt schlampige Ausführung beobachten. Dies wäre an vielen Beispielen zu erläutern. Hier nur eines zur Veranschaulichung: "Beach Stop" (Öl auf Leinwand 243,8 cm x 487,7 cm. 2001), Katalog Seite 16-17.

 
Alex Katz: Beach Stop
2001, Öl auf Leinwand 244 x 488 cm
© VBK, Wien, 2012
Fotonachweis: Mischa Nawrata, Wien
 

Auf diesem Society-Bild sehen wir Menschen unter dunklen Sonnenschirmen, an weißen Tischen auf weißen Gartenstühlen sitzend. Die Szene spielt sich auf einer grünen Wiese, die wie eine Terrasse angelegt ist, vor einem kräftigen blauen Meer und einem helleren blauen Himmelshorizont ab. Sonnenschirme, Tische und Sesseln haben präzise Linien und Kanten. Auffällig sind nun die inexakt ausgeführten Freistellen zwischen den Stäben der Rückenlehne sowie die teils fehlenden Sessel- und Tischbeine. Leicht übersehbar, daher psychologisch um so irritierender, ist der fehlende Verlauf der weißen Stange des rechten Sonnenschirms in zweiter Ebene unterhalb des Kopfes der in Rückenansicht sitzenden weiblichen Person auf erster Ebene. Ebenfalls stimmt der Verlauf des in hell- und dunkelgrün aufgeteilten Rasens nicht. So stimmen die Schattierungsflächen sowohl im Bereich des zentral angelegten Tisches als auch im rechten Tisch nicht mit der Kontinuität der Bodenflächenstruktur überein. Weiters bildet sich bei der links sitzenden, männlichen Figur am rechten Tisch von der Achselhöhle abwärts über die untere Seite des rechten Oberarms entlang zur Tischkante bis zum rechten Oberschenkel der Länge des Oberkörpers hinauf eine kleine Fläche, die anstatt der vorzufindenden fast schwarzen Farbe, nach dem Hintergrund zu urteilen, in horizontaler Reihenfolge von oben nach unten das Blau des Meeres, das Dunkelgrün und Hellgrün des Rasens beinhalten sollte. Man kann nur vermuten, dass Katz, der als Meister der Sorgfalt gilt, hier absichtlich mit Fehlern operiert, um dem Bild die ausgestrahlte Langweile zu nehmen. Bei oberflächlicher Betrachtung bleiben die behutsam gesetzten, malerischen Vergehen auch unentdeckt, sorgen dennoch erfolgreich für den psychologischen Effekt der Irritation.

In einer Zeit der abstrakten Kunst entschloss sich Katz für gegenständliche Bilder. Vor diesem konservativen Hintergrund, dem das Figurative anlastet, wirken die Werke jedoch einfach und radikal (Gillick: S. 73)
In dem aufschlussreichen Interview von Künstlerfreund David Salle äußert Alex Katz, dass es ein Maler ohne Gespür für das Dekorative in New York sehr schwer hat, obwohl es keine Grenzen des Erlaubten in der Kunst gibt (Katz: S. 25). Katz, der als zutiefst amerikanisch empfunden werden kann, ist nicht dazu bereit, die Wirklichkeit der neuen Welt gegen Bilder zu tauschen, die für die Ausbildung eines neuen Systems von Hierarchien die Grundlage für eine unscharfe Traumbildwelt sein könnte (Zitat Gillick: S. 73). In diesem Zusammenhang verwendet Salle einen uns fremden Begriff: Frontier landscape. Dagmar Archan und Edith Drack übersetzten diesen Begriff mit "Frontiermalerei", der nur im deutschsprachigem Text angeführte Querverweis - 9:00 am, oil on canvas, 244 x 305 cm, private collection, Chicago - stellt sich leider als nicht aufschlussreich heraus. Die Grundbedeutung des Wortes frontier (Grenze) hat für heutige Amerikaner eine geradezu magisch-nostalgisch-romantisierende Bedeutung, welche im Wesentlichen durch die verzerrte amerikanische Geschichtsschreibung und die verklärte Perspektive der US-Filmindustrie (Hollywood) zustande kam. Dennoch steht fest, Versuche, aus Katz' Motiven Aussagen über Klasse und gesellschaftliche Strukturen herauszulesen, scheitern. Katz' Werk ist vielmehr eine Manifestation von Kunst, die auf einem Wertegerüst aufbaut, in dem Idee und Werk gleichberechtigt sind (Zitat Gillick: S. 77).

Am Schluss seines Essay zieht Gillick einen Vergleich zu der wegen ihrer Portraits berühmt gewordenen US-Malerin Elizabeth Peyton (geb. 1965), in deren Werke immer jeder gut aussieht und zieht daraus folgendes erkenntnisreiche Rezept: "[…] Die Angst und die Ironie beiseiteschieben, nicht nach metaphorischen Werten suchen, sondern einfach das Beste aus dem Bild eines Freundes herausholen und in ein Kunstwerk verwandeln, das eng verknüpft ist mit der Weigerung, gewisse Kämpfe auszufechten." (Zitat Gillick: S.78). Essl Kuratorin Lisa Grünwald bemerkt in ihrem Essay "Bilder und Augenblicke", dass Katz' Portraits und Figuren eine zurückgezogene Mimik haben, die an die Meister der Renaissance erinnern.

 
Alex Katz: Ena
2001, Öl auf Leinwand 122 x 269 cm
© VBK, Wien, 2012
Fotonachweis: Paul Takeuchi
 

In seinen Portraits fehlt bewusst das Narrative. Wir haben es mit Bildausschnitten großformatiger Köpfe zu tun, die an Leinwandkino erinnern und sich an die großflächigen Werbeplakate anlehnen. Dabei bleibt Katz relativ zweidimensional, modelliert wenig, alleine kleine Schattierungen heben ihn von der Oberflächenmalerei ab. Um Katz zu verstehen, dürfen wir auch sein Geburtsjahr nicht vergessen, als das Kino eine große Entwicklung machte, großformatige Werbeplakate, die einzige Art und Weise darboten, Marketing zu betreiben und das TV noch in den Kinderschuhen steckte! Doch auch wenn wir heute Geräte in der Hosentasche tragen, die in ihrer Kapazität die Technologie der Computer mit denen man in den 1960ern am Mond geflogen ist, übertrumpfen, so ist das für die Kunstszene kein Zeichen von Überalterung.

Mittlerweile gilt Katz für viele junge amerikanische Künstler als Vaterfigur einer unkonventionellen Kunstrichtung und spielt eine wesentliche Rolle am internationalen Kunstmarkt.
Doch Katz arbeitet, unbeeindruckt von seinem Erfolg, in seiner gewohnt traditionellen Manier weiter. Zunächst geht er wie einst die französischen Impressionisten, die Maler en plein air, ins Freie, also in die Natur und schafft dort Ölskizzen und Zeichnungen an. Von dort kehrt er ins Atelier zurück und fertigt von einer kleinformatigen Ölskizze auf Karton eine Großskizze auf Packpapier an (1:1 zur Leinwand). Ähnlich verhält es sich mit den Portraits und Societybildern. Seine Frau Ada, die ihn auch dieses mal nach Österreich begleitete, ist seine ewige Muse und steht ihm heute noch Modell. Ähnlich wie Michelangelo Buonarotti (1475-1564) für seine Deckenfresken in der Sixtinischen Kapelle arbeitete, überträgt Katz nun seine Entwürfe vom Packpapier auf die großformatige Leinwand. Grünwald beschreibt detailiert Katz' Maltechnik. Sechs Malschichten sind notwendig bevor Katz seine Nass-in-Nass-Technik anwendet. Katz durchlief einen Prozess von zehn Jahren voller Experimente, bis er das optimale Verhältnis der Bildoberfläche zum Malgrund fand. Hot and cold (heiß und kalt) nennt Katz diesen Malvorgang (Grünwald: S. 87). Wer noch mehr wissen will, kann sich am Ende der Ausstellung den gelungenen Dokumentarfilm "Five hours" (22:33 min) von Vivien Bittencourt und Vincent Katz anschauen und die Entstehung eines großformatigen Ölgemäldes verfolgen.

Eine durchwegs gelungene Ausstellung mit einem interessanten Katalog.
Dennoch müssen einige kritische Anmerkungen gemacht werden:

1. Leider fehlen im Katalog die Biografien aller Autoren:
Der 1952 in den USA geborene Neoexpressionist David Salle, Alex Katz' Künstlerfreund, der das Interview mit ihm für Interview Magazine Germany führte (Nr. 9/Sept. 2012), der 1964 geborene britische Konzeptkünstler Liam Gillick mit seinem Essay "Gestrandet" (Juli 1999) und Essl Kuratorin Lisa Grünwald mit "Bilder und Augenblicke".

Obwohl ausführlich im Pressetext vorhanden, lässt die Biografie von Alex Katz im Katalog zu wünschen, sie besteht nur aus Geburtsjahr und zweier Studiendaten und davon ist eine falsch: 1949-1949 Studium an der Cooper Union Art School, New York sollte wohl 1946-1949 heißen. Dafür wurde der Platz umso großzügiger für Referenzen bereitgestellt, Listen, die eine Auswahl von Auszeichnungen, Werkankäufe öffentlicher Sammlungen, Einzelausstellungen sowie Publikationen über Alex Katz nachweisen.

2. In diesem Katalog wird - bis auf wenige Ausnahmen im Vergleich zu anderen Künstlern - rein auf die Ölgemälde, die im Besitz der Sammlung Essl sind, nicht aber auf das Gesamtwerk eingegangen. Lediglich Lisa Grünwald weist in einem Satz kurz auf das grafische Schaffen hin (S. 89). Um Katz' Werk jedoch zu verstehen, ist es unumgänglich auf das grafische Œuvre des Künstlers einzugehen, gehören die vielen außergewöhnlichen und großformatigen Siebdrucke zu seinen wichtigsten Werken in seinem Schaffen.
Siehe Kritik zur Ausstellung in der Albertina: Alex Katz: Prints

Schade, dass in diesem Katalog nicht auf die Divergenz in den grafischen und malerischen Arbeiten eingegangen wurde. Aus diesem Grund kann dieser Katalog nur als ein persönlicher Nachweis der Sammlerleidenschaft des Ehepaares Essl gelten, nicht aber als Dokumentation zum Gesamtwerk des Künstlers Alex Katz.

3. In der Ausstellung selbst bleibt zumindest ein Bild in Erinnerung, welches als Acrylwerk gekennzeichnet ist, obwohl Alex Katz laut Katalog und anderen Publikationen ausschließlich mit Öl malt. Dieser Fehler sollte jedoch leicht zu beheben sein.

Alex Katz: Werke aus der Sammlung Essl. Rez.: Ingrid Reichel

Körper als Protest. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
Zu wenig Körper, zu wenig Protest!

 
John Coplans:
Interlocking Fingers No. 17
Silbergelatinepapier, 2000
Albertina, Wien
 

Körper als Protest
Pfeilerhalle, Albertina, Wien
Ausstellungsdauer: 05.09. bis 02.12.2012
Kurator: Walter Moser

In dieser Ausstellung in der Pfeilerhalle der Albertina werden acht internationale Fotografen und Fotografinnen mit insgesamt 34 Fotoarbeiten und 3 Filmen - Arbeiten, die zwischen 1967 und 2000 entstanden sind - vertreten. Laut Pressetext sind hier radikale Ausdrucksformen als visueller Protest gegen gesellschaftliche, politische, aber auch künstlerische Normen zu sehen. So soll die Darstellung von Krankheit und Alter gegen die Ideologie der Vollkommenheit des Körpers stehen.

Bezüglich Aktualität sei erwähnt, dass fünf der acht KünstlerInnen bereits verstorben sind. Schwerpunkt bilden die Werke des nach Amerika emigrierten britischen Künstlers John Coplans (1920-2003). Im Alter von 64 Jahren widmete er sich seinem eigenen nackten Körper und dokumentierte damit seinen Verfall. So sind Großaufnahmen einzelner Körperpartien zu sehen wie Hände, Füße, Unterleib … Seine Intention lag darin einen Kontrast zu der typischen männlichen Inszenierung unversehrter, makelloser und kraftvoller Körper zu bilden. Solche wie sie Robert Mapplethorpe (1964-1989) zeigte. Doch Mapplethorpes Fotografien waren homoerotisch und wenig maskulin, sodass sie gesellschaftspolitisch der Homosexuellen-Bürgerrechtsbewegung zu Popularität verhalfen.

Die Schweizerin Hannah Villiger (1951-1997) hingegen begann in den 1980ern Polaroid-Schnappschüsse ihres eigenen Körpers zu machen, deren radikale Ausschnitte sie zu einem ganzen Abbild zusammenfügte. Die einzelnen Fotos setzte sie jedoch unpassend zusammen, sodass der Körper entfremdet wurde. So zeigt "Block XXX" ein zerstückeltes Ich.

Während die 1947 geborene Japanerin Miyako Ishiuchi mit ihrer Serie "1906 to the Skin" (1991-1993) die Betrachtung der alternden Haut mit ihren Nahaufnahmen des 87-jährigen Tänzers Kazuo Ōno sensibilisierte, enthüllte die italienische Konzeptkünstlerin Ketty La Rocca (1938-1976) anhand einer Radiografie "Craniologia (1973) ihren wachsenden Gehirntumor, an dem sie mit 38 Jahren verstarb. In ihrer kleinen Serie "You You" zeigt sie Handgesten anhand von acht Aufnahmen, in denen ein paar Männerhände, eine Frauenhand einrahmen.

Um Gesten geht es auch in der 35 Minuten langen s-w-Videoperformance "Gestures" (1974) der Amerikanerin Hannah Wilke (1940-1993). Sie zeigt wiederholt typisch weibliche Handgebärden an ihrem Gesicht, so als ob sie sich das Gesicht eincremen würde, nicht vorhandene Falten glätten würde, Augen und Zähne kontrolliert, Lippen befeuchtet… Von dem 1940 geborenen Amerikaner Vito Acconci wird der 14 Minuten lange Super 8 mm Film "Openings" (1970) gezeigt und von dem 1941 geborenen Amerikaner Bruce Nauman der 4:36 Minuten lange 16 mm Film "Pinch Neck (1968). Leider sind die Filme hintereinander auf nur einer großen Leinwand zu sehen. Jack Fulton fotografierte den Grimassen schneidenden Bruce Nauman in einer fünfteilige Serie "Studies for Holograms" (1967). Nauman gehört zu den Künstlern, die ab den 1960ern den eigenen Körper als elementaren Bestandteil ihres Werkes begriffen (Pressetext).

Dass in der Kunst der menschliche Körper als Mittel zum Widerspruch, zur Demonstration und Provokation eingesetzt wird, ist nichts Neues. Und ob der Körper als Protest, als Zeuge, Beweis oder Anklage dient, auch nicht. Gerade die österreichische Kunst der 1968er, allen voran Valie Export und ihr Busenkino oder Günter Brus und Rudolf Schwarzkogler mit ihren inszenierten Selbstverstümmelungen und Bandagings zeigten am ehesten die fehlende politische Aktion in Österreich an ihrem eigenen Leib. Doch zugegeben, diese Künstler sind nicht als Fotografen, sondern als Aktionskünstler aufgetreten. Viel eindrucksvoller erinnert mich der Titel "Körper als Protest" an die Fotoserie "Verletzungen" der wenig beachteten österreichischen Fotografin Hermi Pohl, in der sie Menschen mit Amputationen auf empfindsame und ästhetische Weise zeigt.

Die Perspektive, die Walter Moser, Ausstellungskurator und Leiter der Albertina-Fotosammlung der Gegenwart in dieser Ausstellung darbot, ist jedoch eine minimalistische und sehr reduzierte. Schade, das hervorragende Thema hätte eine umfangreichere und vor allem kritischere Schau verdient.

LitGes, September 2012
 

Zur Ausstellung erschien ein zweisprachiger Katalog (Deutsch-Englisch):

 

Körper als Protest/ The Body as Protest
Walter Moser und Klaus Albrecht Schröder Hrsg.
Berlin: Hatje Cantz Verlag, 2012. 144 S,
ISBN: 978-3-7757-3423-3
€ 29,80.- / Im Shop der Albertina € 21.-

 

Körper als Protest. Rez.: Ingrid Reichel

Sean Scully: Retrospektive. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
Vom Konkreten in der Abstrakten

   
       
       
   

Sean Scully
Retrospektive

Lentos Linz
Ausstellungseröffnung 21.07.2012
Ausstellungsdauer: 22.07. bis 07.10.2012
Kuratorin: Brigitte Reutner
Kunstmuseum Bern, Ausstellungsdauer: 09.03. bis 24.06.2012
Kuratorin: Annick Haldemann

Sean Scully. Retrospektive
Matthias Frehner, Stella Rollig Hrsg.

Berlin: Jovis Verlag, 2012. S. 208
ISBN: 978-3-86859-183-5
Deutsch-Englisch
€ 28.- Lentos Shop!/ € 32.-

 

 
Sean Scully: Wall of Light Golden Brown, 2010
Öl auf Aluminium
Privatsammlung
Foto: © Sean Scully
 
 
Sean Scully: Uriel, 1997
LENTOS Kunstmuseum Linz
Foto: © Sean Scully
 
 
Sean Scully: Untitled Valencia, Spanien, 2002
C-Print auf Aludibond
Privatsammlung
Foto: © Sean Scully
 

Es ist nicht Sean Scullys erste Ausstellung in Linz. Für den 1945 in Dublin geborenen Künstler der geometrischen abstrakten Malerei wurde bereits 1997 in der Neuen Galerie der Stadt Linz - dem heutigen Lentos - eine Personale ausgetragen. Diese Ausstellung ist nun eine Retrospektive seines gesamten Œuvres, welche 40 Jahre umspannt und entstand in Kooperation mit dem Kunstmuseum Bern. Die Sammlung Lentos ist um ein Gemälde reicher geworden, denn Scully verehrte dem Museum ein Werk, welches das Museumsteam selbst aussuchen durfte: Wall of Light Golden Brown (2010).

Die geometrische abstrakte Malerei öffnet einen großen Resonanzraum verkündet Stella Rollig, die Direktorin des Lentos bei der Eröffnung der Ausstellung. Scully selbst bezeichnet sich als Romantiker, vermutlich, weil er trotz geometrischer Abstraktion die Tradition der Malerei stets fortsetzte und vielleicht deshalb erst relativ spät - zwischen 1984 und 1989 - seinen internationalen Durchbruch schaffte. Dies erinnert unweigerlich an die immer wieder aufkeimenden Frage nach dem Sinn und Fortbestand des Tafelbildes. Scully gehört zu den Befürwortern der Malerei, stellt sie nicht in Frage, sondern nützt sie, um das Lebens in all seinen Widersprüchlichkeiten zu veranschaulichen. Dualität und Bruch spielen dabei eine große Rolle. Nähe und Ferne, Leben in Kontroverse zu Abschied, Tod und Verlust sind Sujet seiner Malerei, wobei in den neuen Werken seit dem Jahr 2000, laut Rollig, mehr Zuversicht zu spüren ist und eine spirituelle Komponente deutlich hervortritt. Scully ist kein Illustrator oder Geschichtenerzähler, vielmehr transformiert er Begegnung und Gefühl wie die Wildheit eines Tieres (Bsp. Grey Wolf, 2007) und die Unfassbarkeit der Natur in Malerei. Seine Bildoberflächen sind suggestiv und vermitteln Bewegung, erwecken ein archaisch-elementares Angesprochenwerden auf non-verbalem Kommunikationsweg. Für Scully ist und bleibt die Malerei ein Instrument der Verantwortung und Reflexion. (Katalog S. 15). "Sein Werk negiert das postulierte Ende der Malerei." (Zitat Frehner: Katalog S. 16)

Nur 37 meist großformatige Exponate und 7 C-Prints umfasst die Ausstellung im Lentos. Bemerkenswert sind Scullys unaufdringliche Photographien, die generell erst 1997 an die Öffentlichkeit kamen. Sie handeln vorwiegend von Oberflächenstrukturen von im architektonischen Verfall befindlichen Häuserfronten. Interessant hierbei ist die empfundene Korrelation zu seinen Bildern, obwohl die Photographien gegenständlicher Natur sind.

Scullys klarer Bildaufbau besteht aus verschiedenen Kombinationen von vertikalen und horizontalen Farbbahnen, bzw. quadratischen Farbfeldern. Scully ist von dieser Orthogonalität seit früherster Jugend geprägt, sie veranschaulicht Fortbewegungsmittel (Schienen, Schiffsmasten) und sie erzeugt eine gewisse Grundspannung: "Denn jeder große Künstler geht von der Erscheinungswelt seiner Gegenwart aus und stellt die eigene Zeit in das Kontinuum von Vergangenheit und Zukunft." (Zitat Frehner: Katalog S. 15)

Scully, der von 1968 bis 1972 an der Newcastle University in Nordengland Kunst studierte, erweist sich als Kenner der Kunstgeschichte - vor allem der Renaissance, man könnte ihn als einen intellektuellen Maler bezeichnen, der dennoch der Kopflastigkeit nicht verfallen ist. "Malerei ist dann Kunst, wenn sie als Bildmedium geistige Inhalte erfahrbar machen kann, die anders nicht vermittelbar sind." (Zitat Scully: Katalog S. 12). Scullys zahlreiche Reden und Texte sind von Kunsttheorien untermauert.

 
Sean Scully: Blaze, 1971
Acryl auf Leinwand
Privatsammlung
Foto: © Sean Scully
 

Zu Beginn stand er unter Einfluss von van Gogh, Nolde, Schmidt-Rottluff und Matisse, um nur die wichtigsten zu nennen, bis er den abstrakten Expressionismus durch Mark Rothko entdeckte. So verließ Scully die figurative Malerei Mitte der 1960er Jahre und übte alle Aspekte der geometrischen Abstraktion durch: Von der OP-Art, der optischen Kunst, die sich durch ihre präzisen abstrakten Formmuster und geometrische Figuren auf irritierende optische Effekte und Täuschungen konzentrierte und die Scully in Form seiner Gitterbilder wie "Soft Ending" (1969) interpretierte; dem Hard-Edge, der schablonenhaften, flächigen, geometrischen ohne Pinselspuren und Expressivität und meist auf drei Farben reduzierten Malform mit harten Kanten, die durch Abdeckung mit Klebeband entstehen wie in seinem Werk "Blaze" (1971); der Minimal-Art, eine Kunstrichtung, die sich als Gegenbewegung des gestischen Abstrakten Expressionismus verstand, jedoch trotz Streben nach schematischer Klarheit sichtbare Pinselstriche, weiche Übergänge und überlagerte Farbschichten zuließ. Nach einer relativ kurzen Zeit der intensiven Acrylmalerei entschied sich Scully wieder für die Öltechnik und vermochte durch die vielen transparenten Farbschichten ein luminöses Tiefenräumlichkeitserlebnis auszulösen.

 
Sean Scully: Inset #2, 1973
Acryl auf Leinwand
Privatsammlung
Foto: © Sean Scully
 

Scully konnte in Rückbesinnung der vielen Stilrichtungen der Abstrakten eine eigene Form der Abstraktion entwickeln, wie Matthias Frehner, Direktor des Kunstmuseums Bern, in seinem ausgezeichneten Essay "Grey Wolf oder das Geistige in der Kunst von Sean Scully" im Ausstellungskatalog bestätigt.
1987 entwickelte Scully einen neuen Werktypus: Insets. Hierbei werden kleine Leinwände mit weniger komplexem Aufbau in eine große Leinwand eingesetzt, Bsp. Inset #2 (1973), eine Bild-im-Bild-Strategie.
1995 entstanden die ersten Floating Paintings, eine Art der skulpturalen Malerei: Gemälde auf Aluminiumblock, die mit der schmalen Seite an der Wand befestigt sind, somit im rechten Winkel von der Wand stehen und in den Raum ragen.

Scully erweist sich als unermüdlich das Tafelbild in all seinen Facetten - von der zweidimensionalen Fläche zum dreidimensionalen Objekt, ja zur Skulptur selbst - zu präsentieren. Auf Seite 25 des Katalogs spricht Frehner von Scullys Ziel: Es ginge ihm darum auf die Betonung des Objektcharakters des Bildes zu setzen. Das Bild wäre somit die Oberfläche eines Körpers und zugleich dessen spirituelle Körperlichkeit.

Auch wenn Scullys Exponate des erklärenden Titels bedürfen, um das Spirituelle zu verstehen, so vermitteln seine Bilder eine große Ausgeglichenheit und Ruhe. Die Dualität des Lebens ist nun mal abstrakt und daher scheint die geometrische abstrakte Malerei besonders geeignet, dieses Empfinden zu stillen. Was unter allen geschriebenen Aspekten jedoch tunlichst vermieden worden ist zu erwähnen, ist, dass Scullys Werke durchwegs harmonisch sind und damit auch einen dekorativen Zweck erfüllen. Zugegeben, das ist in der gegenwärtigen Kunst verpönt, scheint aber in der traditionellen Malerei durchwegs relevant.

 
Sean Scully: Backs and Fronts, 1981
Öl auf Leinwand
Privatsammlung
Foto: © Sean Scully
 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Fazit: Eine gut konzipierte Ausstellung, die Scullys Werk von allen Perspektiven der letzten vier Jahrzehnte durchleuchtet und ihn den Status in der Kunstszene einräumt, die er verdient. Der ausgezeichnete Katalog, welcher Scullys Farben gut repräsentiert, rundet die Retrospektive qualitativ ab. Die beiden Kuratorinnen lieferten dementsprechend aufschlussreiche Beiträge: Annick Haldemann referierte über das Konkrete in der Abstraktion und Brigitte Reutner erklärte die Entwicklung und Wirkung des Lichts in Werken Sean Scullys. Am aufschlussreichsten jedoch ist Matthias Frehners bereits erwähnter, detaillierter Essay.

Der Katalog enthält eine Werkauflistung der ausgestellten Werke, Biographie und eine ausgewählte Bibliographie sowie Biographien der Autoren. In der Ausstellung wurde eine informative und gelungene Filmreportage über Sean Scully gezeigt, welches das Lentos eigens produzierte. Schade, dass es diesen Film als DVD nicht zu kaufen gibt!
Ausstellung und Katalog sind absolut sehens- und lesenswert.

Sean Scully: Retrospektive. Rez.: Ingrid Reichel

Francis Picabia: Retrospektive. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
Der Plagiator und Kitschexperte

 

Francis Picabia
Retrospektive

Kunsthalle Krems
Pressekonferenz 03.07.12 zur Ausstellungseröffnung
Ausstellungsdauer: 15.07. bis 04.11.2012
Kurator: Hans-Peter Wipplinger, Kunsthalle Krems

Katalog zur Ausstellung:
Francis Picabia
Hg. Hans-Peter Wipplinger

Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 2012.
S. 206
ISBN 978-3-901261-50-3

Plagiat ist ein extrem aktuelles Thema, nicht zuletzt, weil die Folgen der Aufdeckung die heutigen Schlagzeilen schmücken. Sie zeugen von Aberkennungen akademischer Titel, von Urheberrechtsverletzungen, aber allem voran vom Diebstahl geistigen Eigentums. Dass bei einer Verschärfung der gesetzlichen Lage, jedoch vorwiegend die Großkonzerne der Plattenindustrien und Großverlage profitieren, hat die weltweite Demonstration gegen ACTA (Anti-Piraterie-Abkommen) gezeigt. Dabei ginge es der Kunst auch an den Kragen, Künstler wie Picabia hätten mit ACTA ihre liebe Not. Unter diesem Aspekt bekommt die erste in Österreich stattfindende und historisch umfangreichste Retrospektive des französischen Künstlers Francis Picabia ( 1879-1953) eine besondere Brisanz.

 
Francis Picabia
Autoportrait, 1923
Privatsammlung
Foto: Suzanne Nagy
© VBK Wien, 2012
 

Beinahe 40 Jahre dauerte es bis die kunsthistorische Forschung sich mit den Arbeiten von Picabia auseinandersetzte und weitere 20 Jahre bis die Quellen dieser Kunst in ihrem Kontext anschaulich geworden waren, schreibt der Kunsthistoriker Zdenek Felix in seinem Essay "Der Satyr mit dem Pinsel" im zur Ausstellung erschienen Katalog "Francis Picabia" (S. 119). Letztendlich geht es um die Erkenntnis, dass die Epoche, die den Tod der Malerei vorhergesagt hat - und diese Epoche fing bereits Mitte des 19. Jahrhunderts an - eine Bewusstseinsbildung ist, lernen zu akzeptieren, dass wir bereits Vorhandenes lediglich weiterentwickeln. Der Kunstkritiker Rainer Metzger analysiert in seinem Essay "Nur das Geld hat Genie. Über Francis Picabia als Ironiker" (S.77-80), dass gemessen an gewissen Qualitäten wie Nemesis, Meisterschaft oder Wettbewerbsfähigkeit die Moderne auf ihre Art eine Spätzeit markiert: "Die Originalität der Späten ist die Ironie; und Picabia ist ihr perfekter Exponent." (S. 77) Metzger bezieht sich in seiner Argumentation u.a. auf Joshua Reynolds, britischer Maler des 18. Jahrhunderts und erster Präsident der Royal Academy, der von "Anverwandlung" sprach, die er wahlweise "borrowing" (Ausleihen), "accomodation" (Anpassung), "appropriation" (Aneignung) oder "imitation" (Nachahmung) nannte. Dabei handelt es sich um eine andauernde geistige Übung, die in Permanenz die Erfindung fördere. (S.78)
Nur so kann man Picabias Zitat über den angeknacksten Begriff des Genies: "Nur das Geld hat Genie." vollständig nachvollziehen. Zu seinem jahrelangen Misserfolg sagte Picabia: "Der Erfolg eines Mißerfolgs ist ein Erfolg. Das Leben hat weder Zweck noch Resultat." (S. 17)

Für den 1936 geborenen französischen Künstler und Schriftsteller Jean-Jacques Lebel steht fest, dass Picabia nicht nur der "Funny Guy" und wie Picabia es selbst empfand, der einzige wahre Dadaist (wiewohl er sich davon wieder gelöst hatte), sondern auch der Erfinder der Pop-Art war. Lebels Wissen über diese Zeit beruht nicht zuletzt darauf, dass sein Vater Robert Lebel Kunstkritiker und Freund von Marcel Duchamps war. (Essay: S. 59-67). Die Ausstellung in der Kunsthalle beginnt übrigens mit einem Werk von Lebel aus dem Jahre 1962, einer Collage-Bildreklame mit dem Titel "Mon cœur ne bat que pour Picabia".

   
Francis Picabia
Notre-Dame, 1906
Arp Museum Rolandseck
Foto: Nic Tenwiggenhorn
© VBK Wien, 2012

 
  Francis Picabia
Aux Bords de la Creuse /
Soleil d'Automne, 1909
Kunsthalle Emden
Foto: Elke Walford, Hamburg
© VBK Wien, 2012
  FRancis Picabia
Les seins, 1925-1927

Privatsammlung
Foto: Suzanne Nagy
© VBK Wien, 2012

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

Picabia, der durch eine Erbschaft in Wohlstand leben konnte, verkörpert in der bildenden Kunst das Dandytum, gleichwohl er die gutbürgerliche Gesellschaft mit seinen "Imitationen" der teuren Illustrierten mit ihren verklärten Romantikvorstellungen und sexuellen Tabus anprangerte. Die innere Zerrissenheit zwischen dem Führen eines luxuriösen Lebens und der sozialen Kritik widerspiegelt sich in einem unsteten Stil. "Der Maler trifft seine Wahl, imitiert danach den Gegenstand seiner Wahl, dessen Formveränderung die Kunst ausmacht." (Zitat Picabia: S. 12) Gleichwohl er chronologisch die Epochen der Kunstgeschichte durchmalt, ähnlich William Turner oder Pablo Picasso, manifestiert sich in Picabias Werk ein intellektuelles und politisches Ansinnen. Alle drei Autoren des Katalogs - Lebel, Metzger und Felix - sind sich über die Satire in seinem Œuvre einig. Weiters ist von Pastiche die Rede, ein Begriff, der Picabia schon näher kommt: Ein Werk, welches den Stil eines Künstlers imitiert, eine Parodie ohne Humor, eine Parodie mit Ehrerweisung.
 

   
Francis Picabia
Femme au châle vert,
ca. 1940-1941
Private Collection:
Hauser & Wirth
Foto: Stefan Altenburger, Zürich

© VBK Wien, 2012
  Francis Picabia
Andalouse (Espagnole à la mantille), ca. 1926-1927
Collection Pierre et Franca Belfond
Foto: Rue des Archives, Paris

© VBK Wien, 2012
 
 
Francis Picabia
Double-Soleil, 1950
Ursula Hauser Collection
Foto: Archiv Hauser & Wirth, Schweiz

© VBK Wien, 2012
  Francis Picabia
Mélibée, 1931
Marianne et Pierre Nahon, Paris
Foto:
Suzanne Nagy
© VBK Wien, 2012

Dass Picabia neben seinen Imitationen der mondänen Welt dann den triefenden Kitsch herausbrachte, versteht sich von selbst. Schließlich verbrachte der Lebemann Picabia viel Zeit im Casino und auf Partys, liebte die Frauen und lebte die Oberflächlichkeit dieser - nicht zuletzt von ihm selbst - so kritisierten Bourgeoisie. Um das Leben zu lieben und davon zu erzählen, wählte er das Leben eines Nomaden. "Ich habe es immer geliebt, mich ernsthaft zu amüsieren." (Zitat Picabia: S. 13) ist wohl eines seiner repräsentativsten Zitate. Wobei im Französischen das Wort plaisir für amüsieren steht und daher die Übersetzung dem Pläsier nicht gerecht wird, beinhaltet es mehr Komponenten als den Spaß und die Gaudi, nämlich die Freude, den Genuss und das Vergnügen und bekundet somit ein weitaus intensiveres und erotischeres Lustempfinden als das Amüsement schlechthin. Seine letzte Schaffenszeit nach 1945 widmete er der Abstrakte, vielleicht, wie es der Museumsdirektor der Kunsthalle Krems und Kurator der Ausstellung Hans-Peter Wipplinger in seinem Pressetext anmerkt, als Ausdruck der Sprachlosigkeit gegenüber den Gräueln des Krieges. (S. 8)

Eine aufwendige Ausstellung mit rund 180 Werken aus allen Schaffensphasen, die Picabia als das Chamäleon aller Ismen - vom Impressionismus, Fauvismus, Expressionismus, Kubismus, Dadaismus, Surrealismus … - entlarvt. Zu sehen sind Radierungen, Öl- und Lackbilder, Collagen und Originalcover seiner Dadaistischen Zeitung 391 und der Literaturzeitschrift Littérature, Vignetten u.v.m. Werke aus seiner über Jahre andauernden Serie "Les espagnoles", Monster- und Materialbilder und die berühmten "Transparences", Abstrakte sowie Akte und Porträts. Abgerundet wird die Ausstellung durch den dadaistischen Kurzfilm von Francis Picabia und Eric Satie "Entr'acte", der am 27. November 1924 als Zwischenspiel von Francis Picabias Ballettinszenierung "Relâche" am Pariser Théâtre des Champs-Élysées uraufgeführt wurde. (Filminfo)

Für diese Ausstellung schaffte es Hans-Peter Wipplinger, die Leihgaben aus rund 50 renommierten internationalen Museen wie Musée d'Art Moderne Paris, Petit Palais Genf, Kunstmuseum Bern, MUMOK-Stiftung Ludwig Wien, Kunsthalle Emden … und aus vielen Privatsammlungen zu erhalten.

Der Katalog zur Ausstellung hat im Anhang eine französische und englische Übersetzung aller Texte. Einzige Kritik: Die Biografie der Autoren fehlt.

Fazit: Eine aufschlussreiche und sehenswerte Ausstellung mit einem gut konzipierten und profunden Katalog.

Francis Picabia: Retrospektive. Rez.: Ingrid Reichel