Buch

Oskar Aichinger: Ich steig in den Zug und setz mich ans Fenster

Cornelia Stahl

Oskar Aichinger:
Ich steig in den Zug und setz mich ans Fenster

Wien: Picus Verlag.
2022, 232 Seiten.
ISBN: 978-3-71172127-3

Zugfahren als Meditation und Leidenschaft.
Mit dem aus einer Eisenfamilie stammenden Jaroslav Rudiš reisten wir umweltfreundlich und lasen (am Fensterplatz sitzend) „Gebrauchsanweisung für Zugreisen“ (Rezension in etcetera 89). Ähnlich erlebt Oskar Aichinger das Reisen mit der Eisenbahn, der in seinem dritten Roman seine Wahlheimat Wien verlässt und in den Zug steigt. Für ihn ist Zugfahren gleichzeitig eine Form der Mediation.
Als Lesende sind wir zugleich Reisende, und mittendrin im Geschehen. Wir reisen mit dem Autor ab Wien Franz-Josef-Bahnhof Richtung Gmünd. Sprachlich überzeugt Aichinger mit einprägsamen poetischen Bildern: „Gmünd gibt sich verschlossen wie eine Auster“, S.183. Während einer anderen Tour reist er in den Süden nach Gumpoldskirchen, Wiener Neustadt und Mariazell. Ob von Wien nach St.Pölten, Wulkaprodersdorf oder Attnang-Puchheim, der einstigen Heimatgemeinde des Autors, stets sind wir als Lesende und Reisebegleiter*innen bestens unterhalten.
Aichinger schafft sinnliche (Lese)Momente, schwärmt vom Waldviertler Karpfen: „Ich mag vor allem den Geschmack (…) gedämpft als Wurzelkarpfen, serbisch mit Paprika und Knoblauch“, S. 182. Andernorts philosophiert er und fragt nach dem WARUM: Höflein an der Donau. Wieso heißen so viele Orte Höflein (…) Geht es um einen kleinen Hof?, S. 175.
Der Autor und Komponist verströmt sowohl in der Musik als auch in seiner poetischen Sprache Gelassenheit und Ruhe. Das Buch ist ein literarischer und sinnlicher Lesegenuss, zuweilen ein Reiseführer, der Lust macht auf Tagesausflüge mit dem Zug!
Oskar Aichinger, geboren 1956 in Vöcklabruck, ist Musikpädagoge und Komponist. Bisherige Veröffentlichungen: Ich bleibe in der Stadt und verreise, 2017. Fast hätte ich die Stadt verlassen, 2020. (Alle Bücher erschienen im Picus-Verlag).

Shelly Kupferberg: Isidor

Cornelia Stahl

Shelly Kupferberg:
Isidor

Ein jüdisches Leben
Zürich: Diogenes Verlag AG.
2022, 250 Seiten
ISBN: 978-3-257-07206-8

Schatten der Vergangenheit im Spiegel gegenwärtiger Familiengeschichten. Shelly Kupferberg erzählt die Geschichte ihrer Familie, insbesondere die ihres Urgroßonkels Isidor (Ignaz) Geller (1890 -1938), der einst als Kommerzialrat und Multimillionär in Wien agierte. 1938, als Jude von den Nazis gequält, starb Isidor im November 1938 an den Folgen seiner Haft.
In der Tel-Aviver Wohnung, die den Großeltern Kupferbergs gehörte, fand die Autorin Briefe und Fotos aus dem Familienbesitz, die bis ins Jahr 1920 zurückreichen. Kupferberg gibt Einblicke in ihre Herkunftsfamilie, die im Umkreis von Czernowitz beheimatet war. Jede Familiengeschichte enthält Facetten von Weltgeschichte.
Die Autorin hat in Archiven recherchiert und ihre Familiengeschichte für Leser*innen aufgeschrieben. Mitunter erzählt sie sehr privat, individuell und lässt den Gesamtzusammenhang am Rand. Kupferbergs Großvater Walter verabschiedet sich 1938 vor der Abreise nach Palästina von seinem Onkel Isidor: „Zu gern hätte der junge Mann Isidor gefragt, warum er die Zeichen der Zeit nicht gesehen hatte, nicht hatte sehen wollen (…). Doch Walter wagte es nicht, Isidor darauf anzusprechen“, S. 209.
Spannend liest sich das Interview am Ende des Buches. „Die Recherche hat ein detektivisches Gen in mir geweckt“, gesteht Kupferberg. Im Österreichischen Staatsarchiv Wien stieß sie auf zahlreiche Fundstücke, die sie in den Text einfließen lässt. Melancholisch stimmt die Erzählung um David, den älteren Bruder Isidors. Im Ersten Weltkrieg bekam seine wohlgeordnete Welt Risse.
Nach der Diagnose paranoider Schizophrenie verbrachte David seinen Lebensabend in der Landespflegeanstalt Mauer-Öhling, wo er 1935 starb. Eine spannend geschriebene jüdische Familiengeschichte.
Shelly Kupferberg, geboren 1974 in Tel Aviv, wuchs in West-Berlin auf, wo sie Publizistik, Theater- und Musikwissenschaft studierte. Sie arbeitet als Journalistin und beim Radio.

Markus Mirwald: Eine leise Ahnung von etwas Neuem

Eva Riebler

Markus Mirwald:
Eine leise Ahnung von etwas Neuem

Wesentliches in wenigen Worten. Bd. 4
Selbstverlag Wien/Oberwölbling 2020, 208 Seiten
ISBN 978-3-903212-06-0

Marie von Ebner Eschenbach x 4. Nun ist es seit 2017 bereits der vierte Band an Aphorismen, die Mirwald zuerst in Handschrift und darunter in gesetztem Druck Seite für Seite präsentiert. Wie es der Sinn von Aphorismen ist, kommt Wesentliches zutage, Lebensphilosophie, - weisheit, gepaart mit Deutlichkeit und Klarheit und Feinsinnigkeit.
Es geht dem in Vorarlberg geborenen Autor um nichts weniger als das sinnerfüllte Leben: Zitat: Wer sich lebenslang / kurzweiligen Vergnügungen hinzugeben pflegt, / darf keine lang währende Erfüllung erwarten. Für jeden hat er sinnvolle Ratschläge zu vielen Lebenssituationen
parat: Wer sich als Opfer der Umstände sieht, / gibt gleichsam jede Chance auf, / diese zum eigenen Vorteil zu nutzen.
Mein Lieblingszitat von S. 190: Wer über das Schreiben schreibt, / denkt unweigerlich über das Denken nach.
Wie kommt ein 40jähriger Autor dazu, nur in Aphorismen zu uns zu sprechen? Er interessiert sich für den Menschen an und für sich und immer mehr, als er durch Europa, Amerika, Afrika und den Nahen Osten reiste. Wie funktioniert der sozialisierte Mensch im Miteinander – bzw. wie funktioniert er nicht? Und diese Problematik bedarf des Ratschlages, des Nachdenkens und vor allem des Veränderns.
Und dazu dienen seine Sprüche. Sie kommen nicht so platt einher wie Kalendersprüche oder übliche Sinnsprüche, obwohl natürlich der Sinn Mirwalds Markenzeichen ist, das er sich auf die Fahne geheftet hat.
Er ist ein Philosoph und hat den Blick auf das Wesentliche gerichtet. Er hilft mir das „Erkenne dich selbst” vor Augen zu haben. Er gehört zu den „sapere aude” ..-Denkern undVordenkern und ich muss seine Botschaften nur mehr nachvollziehen/ausführen. – Anscheinend ist das schwer genug.
Daher muss ich stückchenweise immer wieder seine Aussprüche lesen – immer wieder - immer … dafür brauche ich keine Zitate von Marie v. Ebner Eschenbach mehr.

Frída Ísberg: Lederjackenwetter

Cornelia Stahl

Frída Ísberg:
Lederjackenwetter

Gedichte.
Nettetal: Eli Verlag
Aus dem Isländischen
2021, 92 Seiten
ISBN: 978-3-946989-46-2

Eine zweite Haut braucht der Mensch, um sich gegen die Unwägbarkeiten der äußeren Welt zu wappnen. Ein Schutzschild sozusagen, das Gefahren, die im Außen lauern, abwendet und Schutz nach innen bildet, um die eigene Verletzlichkeit zu hüten wie einen wertvollen Schatz. Denn Empfindsamkeit, Mitgefühl und Empathie für uns selbst und ein Gegenüber, sowie für die Schönheit der Welt sind letztlich Indikatoren, die unser Menschsein auszeichnen. Den Gedichtband unterteilt die Autorin in drei Abschnitte: von der 1. Person zur 2. Person, mündet er im dritten Teil in ein WIR.
„Empfindsamkeit“ ist eine Gemeinsamkeit von Vater und Tochter, die im namensgleichen Gedicht zum Ausdruck gebracht wird (S.11):
meine erste lederjacke
er hat es am eigenen leib erfahren
dass die empfindsamen
schutz bedürfen
Isberg greift das Wechselverhältnis zwischen innerer und äußerer Welt sowie zwischen Mensch und Umwelt auf. Das lyrische Ich sucht seinen Platz in der Welt, pendelt zwischen Selbstvertrauen und Verzweiflung (S.13), erkennt das eigene Ich im Spiegel, ein Sujet, das wiederholt in Erscheinung tritt. Im zweiten Teil des Gedichtbandes nimmt die Autorin ein „Du“ in den Fokus und erinnert indirekt an Martin Buber, den jüdischen Philosophen, der den Menschen in seinem Zitat „Der Mensch wird am du zum ich“ markiert. Das lyrische Ich wendet
sich an ein Gegenüber, beispielsweise im Gedicht: DU BIST EIN ATOM (S.35):
du bist mit diesem lachen geboren
mit diesem humor
diesem stolz
Frída Ísberg, 1992 auf Island geboren, studierte Philosophie und Kreatives Schreiben an der Universität von Island. Ísbergs Lyrik liest sich leichtfüßig, schafft Oberflächenspannung und Tiefe zugleich. Lyrikgenuss pur!

H. und R. Langthaler: Kerbungen

Cornelia Stahl

H. und R. Langthaler:
Kerbungen

Schwarze Texte und Holzschnitte. Vw: S. Ayoub
Wien: Promedia. 2021,
88 Seiten
ISBN:978-3-85371-495-9

Ausbrechen aus der Angst. Als am 24.2.2022 russische Bomben ukrainische Städte zerstörten, erinnerten sich die Bewohner Sarajevos an den Horror, den sie 1993 erlebten. Nicht zufällig bildet das Gedicht ADRIA 1993 – Sarajevo den Auftakt des vorliegenden Lyrikbandes.
Hilde Langthaler erzählt darin von ihrer Angst: angst – wovor – und warum ich? bin ich ungehorsam …. die angst vor strafe sitzt mir im genick - und begreift sie als Verflechtung innerer und äußerer Zuschreibungen, fürs Anderssein! Das ist genug – hier in unserer welt!.
Ein melancholischer Grundton durchzieht den Gedichtband,nimmt Einsamkeit, Alleinsein, Verlassenheit in den Fokus, insbesondere im Gedicht allein über die brücke. Darin heißt es auf Seite 8: und so mutterseelenallein bleiben wir die verlassenen, wir die verlorenen, übrig hier auf dieser welt.
Im Poem „durch das labyrinth der zeit einen weg“ erkennen wir das Ringen um Möglichkeiten des Entkommens aus den zuvor beschriebenen Ängsten.
Hilde Langthaler war Berufstätige und Mutter. Carearbeit verknappte die Zeit für lyrisches Arbeiten. Im Gedicht „die brutpflege“ spricht sie explizit über diese Mühen: „die brutpflege“,– wie in der tierwelt, so viel kraft in die brutpflege... (S.20).
Ob auf Reisen, am Strand oder in den Bergen: die Autorin nutzte freie Minuten, um ihre literarische Arbeit voranzutreiben. 2019 widmete ihr das PODIUM mit Podium-Porträt 101 posthum eine Ausgabe.
Ehemann Richard Langthaler fertigte Holzschnitte zu den Gedichten an, die als eigenständige Kunstwerke gedeutet werden können.
Eine Hommage an die Autorin!

Hilde Langthaler (1939-2019) war Ärztin, Mitbegründerin des Wiener Frauenverlages. Richard Langthaler, 1942 in Kirchberg/Wechsel geboren, arbeitet mit Holz und Ton.