55/verloren/Essay: Wolfgang Mayer König - Das verlorene Ansehen der Politiker

Wolfgang Mayer König

Das verlorene Ansehen der Politiker

Wir hätten es uns ja denken können oder sogar wissen müssen, was nämlich jüngst eine repräsentative Umfrage zu Tage gebracht hat: Das Image des Politikerberufs ist auf einem Allzeittief angelangt. Konkret liegen Politiker im Saldo aus guter und schlechter Meinung hinter Prostituierten und Bankern an vorletzter Stelle, knapp vor den Lobbyisten. Ja es sind sogar 65 Prozent, um die Prostituierte angesehener bewertet werden als Politiker. Jetzt haben wir es schwarz auf weiß, was sich die Leute denken. Kein Wunder würde ich sagen, nach all dem, was sich da in den letzten Jahren abgespielt hat. Man braucht sich erst gar nicht des raumfordernden Fernsehprogramms mit Übertragungen aus dem Parlament zu entsinnen, wo sich die Vertreter des demokratischen Souveräns auf unwürdigste und unflätigste Weise gegenseitig unter dem Schutz ihrer Immunität, die ja nicht nur dem gesprochenen Wort gilt und die längst schon obsolet ist und daher abzuschaffen gewesen wäre, gegenseitig befetzen, aller nur denkbarer Verbrechen bezichtigen und die Lüge als ihr Hauptinstrument und berufliches Werkzeug selbst wechselseitig anprangern. Man weiß nicht, was man da sagen soll. Wäre es nicht besser, solche Übertragungen unter das Verbot des Jugendschutzes zu stellen, da sie die schlechtest mögliche Beispielgebung für unsere Jugend sind, oder sollte man froh darüber sein, dass schon die Jugend damit umzugehen lernt, zu sehen, wie sich ihre obersten Volksvertreter im Kot der Malversationen wälzen und damit ihre eigentliche Berufung und Aufgabe bis zur Unkenntlichkeit entstellen und lächerlich machen. Von der anderen, der parlamentarischen Meinungsbildung gewidmeten Kammer, hört man ja nicht viel, davon bleiben wir wenigstens verschont. Vielleicht hört man deshalb aber umso deutlicher den Ruf vieler Politiker, den Bundesrat und die große Zahl der Abgeordneten überhaupt abzuschaffen. Was im Zuge der Jahrzehnte im Schneckentempo durchgenudelten Verwaltungsreform alles ins Auge gefasst und versprochen wurde. Weitgehend ist doch alles beim Alten geblieben. Absurd mutet es dann an, wenn vor einer Wahl völlig andere Budgetzahlen der Bevölkerung verkauft werden als nach der Wahl. Wie man es auch dreht und wendet, man kommt um den Eindruck des Täuschungsmanövers nicht herum, gar nicht zu reden von der Ansicht mehrerer, die darin einen glatten Betrug sehen. Eines ist aber unbestritten. Die daraufhin einsetzende, geradezu kabarettistisch anmutende Suche nach Einsparungsmöglichkeiten, welche bei der Ausgabenseite der Verwaltung äußerst unkonkret, schemenhaft und abstrakt ausfallen und von vielen Prognosevarianten der makroökonomischen Entwicklung abhängen, während einnahmenseitig der Gürtel jedes Einzelnen der Bevölkerung von der Politik sehr konkret und empfindlich enger geschnallt wird, ohne die Betroffenen nur ansatzweise zu befragen, ist in Wirklichkeit Augenauswischerei. Da wird enger geschnallt und eingeschnitten, um Einnahmen in Millionenhöhe hereinzubringen, dabei allerdings verschwiegen oder nur in einem Nebensatz erwähnt wird, dass man dutzende Milliarden von barem Steuergeld bereits sinnlos maroden und von den Politikern in die Pleite gesteuerten und getriebenen Banken in den Rachen geworfen hat. Verantwortliche in Politik und Aufsichtsräten weisen heute eine Bad Bank als falschen Weg von der Hand, um sie morgen schon als einzige Lösung anzupreisen. Das geschieht in derselben Art und Weise mit der Frage, ob man solche Großorganisationen der Geldwirtschaft in Konkurs schicken soll oder nicht. Entscheidend dabei ist, dass in den Monaten und Jahren solcher politischer Kraftanstrengung, das eigene Hirn einzuschalten und sich der Verantwortung gegenüber der Bevölkerung bewusster zu werden, eben dutzende Milliarden verbraten wurden und werden, die man sich nicht einfach mit einer einnahmenseitigen Idee, die man flugs aus dem Ärmel zieht, holen kann, weshalb man geflissentlich und höchst unelegant darüber hinweggeht, sich laut- und kommentarlos davonstiehlt von der sonst so illustren Bühne, die tagtäglich die Welt für die Politik bedeutet. Da wird der Stift in kleinen, ohnehin schon ausgebluteten Bereichen angesetzt, bei den Behinderten, den Pflegefällen, den Kranken, der Gesundheitsversorgung. Das einfachste und seit Jahren erkannte und geforderte milliardenschwere Einsparungspotenzial, welches darin liegt, dass es nach wie vor zahlreiche Sozialversicherungsträger nebeneinander, mit ein und denselben Aufgaben für parallel tätige Verwaltungsapparate gibt, wird offensichtlich weiterhin elegant übergangen und von Geschwätz überdeckt, weil es offenbar darum geht, politisch Pfründen zu erhalten. Da sieht man gerne auch über Synergieeffekte hinweg, die man wo anders im Kleinen mit der Lupe zu suchen trachtet. Auch von Anpassung und Gerechtigkeit im Regelwerk sind wir weit entfernt. Der öffentlich Bedienstete, beispielsweise ein Polizist, der heute in Frühpension geht oder geschickt wird, kann morgen schon als Privatdetektiv munter weiterarbeiten. Auch wenn seine dergestalte Pension auf Gesundheitsproblemen beruht. Der gleiche Mensch, wenn er ein Bauer ist, darf sich nur in geringstem Ausmaß etwas dazuverdienen, ja er muss seinen Betrieb einem anderen Betriebsführer übergeben oder verpachten. Mit der Anwendung der Gleichheitsidee happert es überhaupt in der Politik. Von Gleichheit in der Politik ist ja schon überhaupt nichts zu spüren. Wer sonst könnte sich sonst immer mehr Einkommenserhöhungen und Privilegien selbst genehmigen? Die Kontrolle ist ja geradezu ein Hohn. Sowohl die der Politik als vor allem auch die der Verwaltung. Parlamentarische Anfragen werden immer wieder summarisch beantwortet, vertröstet und auf Amtsvorgängerbeantwortungen hingewiesen. Sämtliche Instrumente der direkten Demokratie bleiben stumpf, weil sie ohnehin keine Entsprechung finden, selbst, wenn die Beteiligung repräsentativ ausfällt. Die Volksvertretung behält sich eben ihre Entscheidungs- und Dispositionsfreiheit vor und lässt sich nichts vom Volk dreinreden. Der Stimmzettel ist abgegeben, jetzt soll sich der Wähler wieder brav zurücklehnen. Besonders arg wirkt sich die mangelnde Kontrolle in der Justizverwaltung aus. Es darf in einer Demokratie, die nur ansatzweise den Namen verdient, nicht zulässig sein, dass sich Verwaltungsbereiche selbst kontrollieren. Unmöglich. Die Justizverwaltung kontrolliert sich selbst. Wenn auch für die verschiedenen Gerichtssprengel in Disziplinarangelegenheiten wechselseitig verschränkt jeweils andere Disziplinarsenate in Oberlandesgerichten und ein Leitender Staatsanwalt als Disziplinaranwalt zur Vertretung des Staates zur Verfügung stehen, so kontrolliert sich auf solche Weise die Justiz selbst. Das ist völlig unzukömmlich. Ebenso die Tatsache, dass solche Disziplinarverfahren nicht öffentlich sind und deren Ergebnis nicht öffentlich gemacht wird. In den Strafverfahren gegen strafbare Handlungen von Justizbediensteten entscheidet wieder ein Staatsanwalt und ein Richter, also wieder die Justizverwaltung selbst. Das hat mit Unabhängigkeit rein gar nichts zu tun. Wieviel Schindluder in Politik und Justiz wird unter dem Deckmantel der Unabhängigkeit und Immunität getrieben. Unabhängigkeit wäre schon eine gute Sache. Unabhängig kann aber nur der sein, der sich ein unabhängiges Urteil bilden kann. Dazu braucht es aber entsprechende Kenntnis, Wissen und Lebenserfahrung. Genau das haben aber in ihrer Selbstverliebtheit diese sogenannten „unabhängigen“ Beamten oft nicht. Im Parlament, der Legislative sitzen eine Unmenge von Beamten, die von Haus aus der Exekutive zuzählen waren, sie sollten eigentlich wissen, dass ein Gesetz nur dann etwas taugt, wenn es auch vollziehbar ist. Mitnichten. Wir hinterlassen einer staunenden Nachwelt eine Massenproduktion an Gesetzen, geradezu einen Gesetzesdschungel, auf deren Vollziehbarkeit aber nicht mit der gleichen Emsigkeit geachtet wird. So wundert es auch nicht, wenn die Gesetze, kaum dass sie promulgiert auch schon novellierungsbedürftig sind. Dass sich Richter und Staatsanwälte nicht dauernd und laufend auf dem neuersten Stand über die Anwendungskonsequenzen der Gesetzesreparaturen, Änderungshalbheiten und so weiter befinden und halten können, ist ebenso einleuchtend wie der Umstand, dass sie deren menschenbezogene Auswirkungen schon deshalb nur erschwert beurteilen können, weil man auch selbst ein wenig Menschenkenntnis und Psychologie braucht, auch ein gerüttelt Maß an eigener Charaktereigenschaft, und nicht alles von Sachverständigen, deren Unabhängigkeit ebenso in Betracht zu ziehen ist, beigeschafft werden kann. Solche Anstellungserfordernisse existieren aber nicht. Das Übel besteht jedoch nicht nur hinsichtlich des gesatzten Rechts, auch die ständige Judikatur, die Kasuistik, die ebenso anzuwenden ist, wird all zu oft völlig außer Acht gelassen. Die Kontrolle darüber obliegt wiederum einzig und allein der Justizverwaltung selbst. Wo kann und darf es so etwas geben? Es ist völlig unhaltbar, dass der Oberste Gerichtshof mit keinem einzigen Wort zu begründen braucht, warum er einen außerordentlichen Revisionsrekurs nicht zulässt, sondern unbegründet abweist, selbst dann wenn eine grundlegende Rechtsfrage zu klären gewesen ist. Da ist es nur folgerichtig und logisch, wenn generell alle Relationen in der Justiz außer Rand und Band geraten sind. Ist es nur ein böser Traum, oder sollte es wirklich wahr sein, dass eine Ministerin, die über die Unschuldsvermutung zu wachen und deren strikte Einhaltung zu wahren hätte, selbst sogar im Falle eines vierzehnjährigen Kindes, das in der Untersuchungshaft, wie so viele andere Jugendliche davor, vergewaltigt wurde, eben dieses Prinzip der Unschuldsvermutung in unbedarften Äußerungen gröblich verletzte, und dann als sich ein anderer Jugendlicher eine Woche vor seinem Haftende und seiner Haftentlassung erhängte, noch in einer diesbezüglichen Pressekonferenz an die Öffentlichkeit appellierte, sie wolle nach so kurzer Amtszeit nach der bevorstehenden Wahl als Ministerin so gerne wiederbestellt werden, weil sie dann vieles noch besser machen könne, aber es sei ohnehin alles derzeit besser als je zuvor. In Anbetracht solchen menschlichen Leids und Elends noch eigene Karrierewünsche bei der Bevölkerung anbringen zu wollen ist - nur ein böser Traum oder sollte es wahr sein? Auch dass ein Hungernder, der einige Müsliriegel aus einem Kaufhaus entwendete, dafür für Monate im Gefängnis weggesperrt wurde? Ist es nur ein böser Traum? Oder sollte es wahr sein, dass das Pflegschaftsrichteramt jemandem erhalten blieb, obschon er in einem Kinderpornoskandal verwickelt war? Ist es wahr? Oder nur ein böser Traum - genug damit! Wenigstens eines ist nicht nur wahr sondern steht fest: die Zustände sind nicht besser als früher, sondern erheblich schlechter, und dafür ist die Politik verantwortlich, deretwegen die Politiker mit der Einbuße ihrer beruflichen Reputation in der Bevölkerung zu zahlen haben. Spott und Hohn bedeutet es, wenn Politiker stets auf der Zunge führen, wie bedeutend die Rolle der Bildung für das Wachstum und die ökonomische wie sozialpsychologische Entwicklung seien. In Wirklichkeit ist Bildung die öffentliche Spielwiese der Blockierer, die es ausschließlich so darstellen, als sei Bildung eine personelle Besoldungsfrage. Dass sich diese Leute nicht schämen, vor allem vor der Jugend, für deren Entwicklung sie verantwortlich wären. Aber was will man denn. Ein Großteil dieser Lehrer sind selbst Politiker, weil man den Lehrberuf seit jeher bis ins kleinste Glied verpolitisiert hat. Obschon man in und für die Politik ja gar nichts zu lernen braucht, weil ja die Chance der Demokratie auch darin liegt, dass auch der Ungelernte zur Vertretung des Volkes allerorts zugelassen werden soll, vorausgesetzt eine ausreichende Anzahl von Stimmzetteln bringt ihn auf den Listenplatz, auf welchen er von seiner Partei gesetzt wurde. Weitergeben kann man Wissen aber nur, wenn man es selbst erfahren hat. Und Wissen setzt einen anderen und weiteren Horizont voraus, als ihn die Lehrpläne erbringen, an den sich die Lehrer zu halten haben, genau so wie deren Lehrer seinerzeit. So wird alles und jedes vermittelt. Differenzieren und Integrieren, chemische Versuchsreihen und physikalische Gesetze. Aber wie man ein Gespräch mit einem anderen Menschen führt, welches auch alle Anforderungen eines Gesprächs erfüllt, wird nirgendwo in den Schulen gelernt. Warum solche Vorgänge, wie sie in den heimischen Banken oder in Banken in Griechenland oder Irland stattgefunden haben und noch immer stattfinden, menschenverachtend und gesellschaftsschädigend sind, wird ebenso nirgendwo in den Schulen gelernt. Der wesentlichste Schritt der Verwaltungsreform zur Sanierung unserer Budgets läge darin, endlich das Dickicht und den Dschungel der Gesetze zu durchforsten, zu entrümpeln und auf das Wesentlichste zu reduzieren. Ebenso liegt einer der wichtigsten Schritte der Schulreform darin, endlich lebensnahe, brauchbare Lehr- und Lerninhalte einzuführen. Ein Großteil des unnötigen Ballasts, den wir hier mitschleppen, macht sich bei der Jugend bestenfalls als Auswendiggelerntes breit, das sich nicht in der Denk- und Erlebniswelt des Jugendlichen fundiert und schnell vergessen, also nutzlos ist. Die wichtigsten Dinge für sein späteres Berufs- und Privatleben werden dem Jugendlichen nicht vermittelt, er muss es sich auf der freien Wildbahn des Erlebens erst für sich selbst adaptieren, wenn er nicht selbst daran zuvor gescheitert ist. Wie wir überhaupt keine konstruktiven Ausstiegsmöglichkeiten für den Scheiternden zu Verfügung haben oder anbieten können. In anderen Ländern gibt es infolge einer praxisbezogenen Ausbildung zahlreiche Ausstiegsmöglichkeiten, die eine abgeschlossene Berufsausbildung darstellen. Der am Gymnasium Gescheiterte steht heute schlechter da als ein Hauptschulabsolvent. Alles gipfelt im Akademischen. Die Facharbeiterausbildung bietet heute beispielsweise kaum einen vergleichbaren Anreiz als es alles Akademische tut. Obschon auch im akademischen Bereich ein gerüttelt Maß an Arbeitslosigkeit existiert. Der Hund liegt vor allem dort begraben, wo wiederum eine völlig irrige Ansicht der Politik von der Gleichheit der Menschen vorherrscht. Es ist ein totaler Unsinn zu behaupten, dass alle Kinder gleich talentiert sind. Sie sind es nicht. Sondern es wäre Aufgabe der Politiker zu erkennen, dass man auf Basis des Prinzips der Gleichwertigkeit nur dann die Chancen fördern kann, wenn man sich um jedes Individuum einzeln, jedoch eingebettet in die jeweilige Gemeinschaft kümmert. Es gibt keinen anderen Weg, Talente und Chancen zu sichern. Und nur so können wir erreichen und sicherstellen, dass eine Generation heranwächst, die endlich in den Stand versetzt wurde, die Prioritäten richtig zu setzen. Und zwar trotz des stets vorhandenen Spielraums von Meinungsvielfalt. Unsere Politiker haben das mit ihrem Mundwerk zugeschüttet und intellektuell verschlafen. Mit ihrem Gequassel im Parlament haben sie das schlechteste Beispiel dafür abgegeben, wie Gesellschaft und die ihr anhaftende Gesprächskultur funktionieren soll. Wenn schon der aus der modernen Literaturgeschichte herrührende Satz, dass zuerst das Fressen und dann erst die Moral käme, zutrifft und Geltung haben soll, so hat das ständige „Gürtel enger schnallen“ der Politiker bei der Bevölkerung, und nur nicht bei sich selber, viel dazu beigetragen, dass die Bevölkerung nicht mehr wie gemolkenes Vieh behandelt werden möchte. Nicht mehr zur ungefragten Risikogemeinschaft degradiert werden möchte, wenn es darum gilt, tollkühne und verbrecherische Bankenverluste zu sozialisieren. Wir haben ohnehin schon einen der höchsten Steuersätze, unbeschadet der Tatsache, dass die Mehrwert-, resp. Umsatzsteuer, bei jedem Einkauf eine weitere Einkommensverdünnung bewirkt. Früher haben Generationen gegen den Zehent der Feudalherren revoltiert und Regierende, von der Aufkommenslast erdrückt, gewaltsam vertrieben. Heute ist es umgekehrt. Der Zehent wird nicht von uns eingetrieben, den Zehent haben wir nicht an die Herrschenden zu entrichten, sondern wir nähern uns allmählich den zehn Prozent, die uns von hundert Prozent erarbeitetem Einkommen endgültig verbleiben. So schaut es in Wirklichkeit aus. Das Prioritäts- und Ausleseprinzip der so gehandhabten Demokratie, hat uns in diese passive Rolle einer ungefragten Risikoübernahmegemeinschaft gebracht und die Politiker verkaufen uns für so dumm, als hätten wir mit einem Stimmzettel alle Chancen dieser Welt, daran etwas zu ändern. Wohl deshalb rangieren Politiker in den Augen der Bevölkerung sechsundsechzig Prozentpunkte schlechter als Prostituierte.

Wolfgang Mayer König
Lebt als Schriftsteller und Universitätsprofessor in Graz. Einstimmig gewählter, fraktionsloser, gesamtösterreichischer Kultur- und Bildungsreferent der ÖH, Körperschaft öffentl. Rechts. Begründer des Universitätsliteraturforums „Literarische Situation“. Mitglied des Kabinetts und Persönlicher Referent von Bundeskanzler Kreisky. Verfasser des Zivildienst-Bundesgesetzesentwurfs. Verhandelte die Freilassung der Geiseln nach dem OPEC-Terrorüberfall. Koordinator der humanitären Wiederaufbauhilfe für Vietnam mit dem Intern. Roten Kreuz. Ständiger Delegierter bei den Vereinten Nationen. Langjährig als Vorstandsdirektor in der Industrie tätig. Lehrte langjährig ein Hauptfach an der Universität für industrielle Gestaltung in Linz. Mitglied der Akademien der Wissenschaften und Künste „ Tiberina“ Rom und „Cosentina“, Cosenza. Vorstand des Instituts für Konfdes Arts et des Lettres der Republik Frankreich, Oberösterr. Kulturmedaille, Großes Ehrenzeichen von Steiermark und Kärnten. Gold. EZ des Bundeshauptstadt Wien. Ehrenobmann der Literarischen Gesellschaft St. Pölten.

Erschienen im etcetera Nr. 55 / verloren / März 2014 mehr...

55/verloren/Essay: Jakob Helmut Deibl - Aspekte einer Poetik des Verlorenen

Jakob Helmut Deibl

Aspekte einer Poetik des Verlorenen

Überlegungen zu Hölderlins Dichtung 1) Vorbemerkung. Es gibt einen kurzen Text Heideggers aus dem Jahr 1954, der den Titel: „Was heißt Lesen?“ trägt. In seiner Antwort auf diese Frage setzt Heidegger Lesen und Sammlung in Beziehung: „Das Tragende und Leitende im Lesen ist die Sammlung.“1 Hinter dieser Verbindung steht Heideggers Etymologie der Worte lógos und légein: Ersteres wird meist mit Wort, Vernunft oder Begründungszusammenhang wiedergegeben; zweiteres mit Lesen. Darüber hinaus führen aber, worauf Heidegger insistiert, beide Worte die Bedeutung der Sammlung mit sich. Lesen wäre demnach ein Vorgang, welcher danach trachtet, das Verstreute der Buchstaben, Wörter, Sätze, Gedanken und Motive in einem Fokuspunkt zu versammeln. Wie lässt sich Hölderlins Dichtung lesen, worin ließe sie sich sammeln, zumal sie sich doch gerade jeder Einordnung versagt und kein geschlossenes Oeuvre darstellt? Sie erscheint gebrochen in eine Fülle an Fragmenten, immer neuen Überarbeitungen von Texten, späteren Hinzufügungen, Abbrüchen und Neuansätzen. Eine gesicherte Endgestalt der Texte lässt sich oft nicht ermitteln. Gäbe es ein Wort, das Hölderlins Dichtung zu sammeln vermöge, ohne ihr gleichwohl den gärend unfertigen Charakter zu nehmen und ihre Offenheit zu schließen? Wäre das Verlorene dafür geeignet, das auf einen beständig suchenden Gestus, der nie in ein endgültiges Finden einmündet, hinweisen könnte? 2) Bilder des Verlorenen. Hölderlins Dichtung durchläuft keinen Weg zu abgeklärter Reife, sondern kann als ein Weg des Verlustes gelesen werden. In den Gedichten aus seiner Studienzeit und den darauffolgenden Jahren (von 1788 bis etwa 1800) werden sämtliche Leitmotive, die Hölderlins Zeit prägen, fraglich und gehen als sichere Fundamente verloren: Die utopische Hoffnung auf ein kommendes freies Jahrhundert erlebt in den auf die französische Revolution folgenden Jahren eine Ernüchterung. Sie kann auch nicht im Kontext Deutschlands Fuß fassen, um dessen Erneuerung aus dem Gedanken eines freien Bürgertums zu fördern. Die Sehnsucht nach dem antiken Griechenland, die mit dem griechischen Freiheitskampf 1770 viele Schriftsteller und Dichter in Europa erfasste führt nicht in eine lebendige Er innerung der Vergangenheit, sondern stellt im Gegenteil den Verlust der antiken Welt vor Augen. Die dritte Strophe von Mnemosyne  spricht vom Tod sämtlicher griechischer Helden:

35 Am Feigenbaum ist mein Achilles mir gestorben, Und Ajax liegt An den Grotten der See, An Bächen, benachbart dem Skamandros. (Mnemosyne , VV 35-39)

Auch die Hoffnung auf eine neue Lebendigkeit des Menschen durch eine Angleichung an die Prozesse des ewig sich erneuernden Werdens der Natur entschwindet. Sie lässt einen Menschen zurück, der sich darin nicht mehr repräsentiert sieht: Ach! es singt der Frühling meinen Sorgen Noch, wie einst, ein freundlich tröstend Lied, Aber hin ist meines Lebens Morgen, 55 Meines Herzens Frühling ist verblüht. (An die Natur, VV 53-56)

Die Lehrer, die man sich zum Vorbild genommen hatte, wollen nicht die freie Entwicklung des Schülers, sondern erscheinen als deren Totengräber, die keine Zukunft eröffnen: 45 Begrabt sie nur, ihr Toten, eure Toten, Und preist das Menschenwerk und scheltet nur! (Der Jüngling an die klugen Ratgeber , V 45f)

Beinahe jedes Gedicht Hölderlins aus dieser Zeit kann gelesen werden als ein Abschied, welcher eine der leitenden Ideen seiner Epoche vorstellt, um dann schließlich ihren Verlust zur Sprache zu bringen. Zurück bleibt die Zerrissenheit einer Gesellschaft ohne lebendige Erinnerung und Utopie, was Hölderlin auf eindringliche Weise in seinem Briefroman Hyperion  (1796/98) zum Ausdruck bringt: „Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstükelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?“2 Als letztes Refugium vor der Zerrissenheit der Gesellschaft wird im Gedicht Da ich ein Knabe war, das ebenfalls zur selben Zeit entstanden ist, die Anrufung des Göttlichen beschrieben. Von den „Göttern“ sagt Hölderlin: Doch kannt’ich euch besser, 25Als ich je die Menschen gekannt, Ich verstand die Stille des Äthers Der Menschen Worte verstand ich nie.

Für Hölderlin eröffnet sich hier ein Raum des Verstehens, der ihm von seiner Epoche versagt bleibt – allerdings stellt das Gedicht als Ganzes einen Blick in die Vergangenheit dar. Klingt hier schon der Abschied auch von der Sphäre des Göttlichen an? 3) Der Verlust des Göttlichen und das Offenhalten der Leere. Die unterschiedlichen Erfahrungen des Verlustes hinterlassen eine Lücke, die in Gefahr steht, entweder in eine Perspektiven- und Visionslosigkeit des Verstummens zu münden oder durch andere Sujets sofort wieder gefüllt zu werden. Hölderlin sucht dagegen nach einem Punkt ihrer Sammlung, um jene Erfahrungen des Verlorenen darin zu bewahren, ohne jedoch die Härte der Abschiede zu verdecken. So spricht er von einem Verlust des Göttlichen, was eine Radikalisierung bedeutet, insofern der Verlust nicht partiellen Charakter hat, sondern das Absolute selbst betrifft und es deshalb keine davon unberührten Bereiche mehr gibt. In Hyperion verwendet Hölderlin dafür das Bild von der Flucht aller Götter: „Wo aber so belaidigt wird die göttliche Natur und ihre Künstler, ach! da ist des Lebens beste Lust hinweg, und jeder andre Stern ist besser, denn die Erde. Wüster immer, öder werden da die Menschen, die doch alle schöngeboren sind; der Knechtsinn wächst, mit ihm der grobe Muth, der Rausch wächst mit den Sorgen, und mit der Üppigkeit der Hunger und die Nahrungsangst; zum Fluche wird der Seegen jedes Jahrs und alle Götter fliehn.“3 Die Rede von „Göttern“ und deren Entschwinden hat nichts mit einer polytheistischen Remythologisierung der Welt zu tun, sondern ist Ausdruck jener geschilderten Verlusterfahrungen. Es handelt sich dabei nicht um ein partielles Entfliehen, sodass neue „Götter“ an die Stelle der alten treten könnten, sondern um eine Flucht, die das gesamte Götterpantheon betrifft: „und alle Götter fliehn“. Für diesen Verlust kann es keinen Ersatz geben. Das Bild des Entschwindens des Absoluten kann den von Hölderlin in seinen Gedichten begangenen Verlust-Weg rekapitulieren und verweist auf all die bisher aufgetretenen einzelnen Verlust-Gestalten zurück, indem es verhindert, dass die dabei entstandene Leere wieder ausgefüllt und somit die verlorengegangenen Leitmotive durch neue substituiert würden. Heutige Formen eines derartigen Ersatzes könnten sein: An die Stelle lebendiger Erinnerung an die Vergangenheit treten nationalistische Konstrukte der Zusammengehörigkeit seit unvordenklichen Zeiten, an die Stelle verlorener Zugehörigkeit zu den Kreisläufen der Natur tritt die vollständige Eingliederung in den unaufhörlichen Kreislauf kapitalistischer Warenwirtschaft. Das Vakuum an geistigen Vorbildern wird durch die beliebige Inthronisierung und das anschließende Stürzen des bisher unauffälligen Mannes / der bisher unauffälligen Frau in den unzähligen Casting-Shows ausgefüllt. Der Verlust an Utopie wird zynisch durch eine aktive Vernichtung der Lebensweltgrößtmöglicher Knappheit ausgesagt: „Und Not die Treue.“ (V 14) Das Gedicht trägt den Titel Mnemosyne, was Erinnerung bedeutet und auf die Mutter der Musen, d.h. auch der Dichtung, anspielt. Den Verlust nicht nur zu konstatieren, sondern dem Verlorenen die Treue zu halten, es zu erinnern und ihm eine Sprache zu geben, wäre gerade die Aufgabe der Dichtung, die dann zu einer Poetik des Verlordieses Gedichtes – und das sind wir, die Menschen unserer Epoche – auf nichts mehr. Er ist deutungsloses und mithin gänzlich entleertes Zeichen (V 1). Der Mensch in seiner deutungslosen Leere begegnet hier in der größten Ausgesetztheit und steht gleichzeitig vor der Figur einer umfassenden Substitution, die seine deutungslose Leere durch virtuelle Bilder und Identitäten, die ihn gänzlich unberührbar machten, ersetzt. Hölderlin drückt dies im Wort „Schmerzlos“ aus, das erratisch am Anfang des zweiten Verses steht. Es bedeutet nicht allein, dass der Schmerz des Verlorenen nicht mehr fühlbar ist, sondern dass auentleerte Zeichen vor den es ausfüllenden Bildern zu „behalten“. Für die Dichtung bedeutet dies, dass sie mithin nicht bloß über das Verlorene zu schreiben und es zu bewahren hat, sondern dass sie selbst an der Schwelle des Zerbrechens und der Neu-Eröffnung von Sprache steht. Die späten Hymnen Hölderlins nehmen genau dies in den Blick, wenn sie in dichterischer Sprache auf ein Enden und ein Neubeginnen des Gesangs (der Dichtung) reflektieren. Man kann sie deshalb als eine Poetik des Verlorenen bezeichnen.4 6) Erzählungen des Verlorenen. Im Hinblick auf die Thematik des Verlorenen gilt es noch einen weiteren Schritt hervorzuheben, den Hölderlin in seinen späten Gedichten geht, als er sich vermehrt der Gestalt Christi zuwendet. Der Verlust des Göttlichen ist ihm nicht mehr allein Chiffre für die Zusammenfassung und das Offenhalten der bisherigen Formen des Verlustes, sondern hat viel enger mit dem christlichen Narrativ selbst zu tun, in dessen Mitte sich eine Gestalt radikalisierten Verlustes findet. Das Zeichen des Kreuzes steht für einen Bruch, der in Gott selbst hineinreicht, und ist Symbol der Erinnerung und Treue allen Verstorbenen gegenüber. Überdies mündet die christliche Erzählung nicht in ein Schweigen, sondern sucht in jenem Bruch eine neue Sprache für den Menschen in seiner Verletzlichkeit zu finden. In der Passionserzählung des Johannes-Evangeliums spricht Jesus selbst dies aus, wenn er am Ende der Verhandlung bei Pilatus, als er bereits geschmäht im Königsgewand und mit Dornenkrone erscheint, über sich sagt: „Seht, da ist der Mensch!“ (Jo 19,5) Wenn nun aber der Bruch oder das Verlorene selbst der Ort ist, an dem sich das Göttliche und Menschliche zeigen können, ist nicht mehr das Motiv umfassenden Findens (Wiedereinbringung alles Verlorenen) das eschatologische Hoffnungsbild schlechthin, sondern gerade das Ablassen von diesem Phantasma. Dies bringt das Gedicht Patmos zum Ausdruck, welches in der Entwicklung des Christentums eine Geschichte des Verlustes benennt. Sie beginnt mit dem Tod Jesu, der den Verlust jedes unmittelbaren Zugangs zum Göttlichen bedeutet. Von der Predigt Jesu und der unmittelbaren Erinnerung an ihn geht vieles verloren und findet keinen Ort in den Erzählungen der Evangelien. Schließlich führt die Aufklärung in der Moderne zu einer Fragwürdigkeit der gesamten christlichen Überlieferung. Patmos antwortet darauf nicht mit dem Motiv der Wiedereinholung alles Verlorenen, sondern stellt dem ein anderes eschatologisches Bild gegenüber: Es ist der Wurf des Säemanns, wenn er faßt Mit der Schaufel den Weizen, Und wirft, dem Klaren zu, ihn schwingend über die Tenne. 155Ihm fällt die Schale vor den Füßen, aber Ans Ende kommet das Korn, Und nicht ein Übel ists, wenn einiges Verloren gehet und von der Rede Verhallet der lebendige Laut, 160Denn göttliches Werk auch gleichet dem unsern, Nicht alles will der Höchste zumal. (Patmos, VV 152-161)

Im biblischen Bild des Sämannes (Mt 13), der Korn (das Wort Gottes) auf die Erde sät, allerdings nur von einem Teil davon die Ernte einbringen kann, bzw. dem Bild der apokalyptischen Ernte (Off 14, 14-16) gibt das Gedicht eine überraschende Antwort auf die Dramatik des Verlorenen: „Und nicht ein Übel ists, wenn einiges / Verloren gehet […] Nicht alles will der Höchste zumal.“ Hier zeichnet sich der Gedanke eines Ablassens vom Phantasma der vollständigen Präsenz und gleichzeitigen Anwesenheit aller Dinge im Ewigen ab: „Nicht alles will der Höchste zumal.“ Es geht um eine Anerkenntnis des Kontingenten, das verloren geht, als Verlorenes, ohne dass dies aber in seine Nihilierung, d.h. in eine gänzliche Zerstörung seiner Bedeutung mündete. Dies verändert unseren Blick, der nicht mehr gebannt ist von der Totalität, sondern lernt, das Unscheinbare wahrzunehmen. Von hier ausgehend ließe sich eine gemeinsame Aufgabe für Kirche und Literatur benennen. Kirche kann als Gemeinschaft, die sich um die Erzählung Jesu herum bildet und diese Erzählung in je neuen Geschichten der Menschen fortschreibt, gesehen werden; Literatur als die Pflege eines Gedächtnisses mannigfaltig verschiedener Erzählungen und Eröffnung neuer Erzähllandschaften. Von einer letzten Erzählung aller Erzählungen, d.h. einem letzten Finden alles Verlorenen gälte es für beide Abschied zu nehmen zugunsten der Hoffnung auf eine je neue Eröffnung kontingenter,unvorhersehbarer Erzählungen des Menschlichen, die uns deshalb zu berühren vermögen, weil sie schwach und vom Verlorengehen bedroht sind. Solche Erzählungen wären heute dort zu finden, wo Menschen ihre Herkunft, Vergangenheit und Heimat verloren haben. Kirche und Literatur müssten eine Aufmerksamkeit für die Erfahrungen und Geschichten von Migrantinnen und Migranten entwickeln und zu einem Ort werden, wo sie in ihren Erzählungen zur Sprache und zur Schrift kommen könnten.

1) M. Heidegger, Aus der Erfahrung des Denkens, 111.
2)  F. Hölderlin, Hyperion. Zweiter Band. Zweites Buch, in: F. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Michael Knaupp (Münchener Ausgabe Band 1), München/Wien 1992, 755.
3)  F. Hölderlin, Hyperion. Zweiter Band. Zweites Buch (Münchener Ausgabe Band 1), 757.
4) Dieser Impuls wurde besonders von der Dichtung ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts aufgenommen. Dierk Rodewald spricht in der Einleitung einer Zusammenstellung von Gedichten „an und auf Hölderlin“ die Vermutung aus, „dass sich in der produktiven Auseinandersetzung der Lyriker mit dem oeuvre des meist als exemplarische Dichterfigur begriffenen Friedrich Hölderlin so etwas wie eine lyrische Reflexion des jeweiligen Autors auf das dichterische Sprechen überhaupt erkennen lasse“ (D. Rodewald, An Friedrich Hölderlin. Gedichte aus 180 Jahren deutsch- und fremdsprachiger Autoren, Frankfurt am Main 1969, 7). Der umfangreichen Sammlung wäre als ein noch neueres Werk Scardanelli von Friederike Mayröcker (F. Mayröcker, Scardanelli, Frankfurt am Main 2009) hinzuzufügen. Scardanelli ist jener Name, mit dem Hölderlin zahlreiche seiner Turmgedichte unterschrieben hat.

Jakob Helmut Deibl
Ist Assistent am Fachbereich Theologische Grundlagenforschung (Fundamentaltheologie) an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und unterrichtet Religion am Stiftsgymnasium Melk. Er gehört dem Benediktinerstift Melk an.

Erschienen im etcetera Nr. 55 / verloren / März 2014 mehr...

54/blind/Essay: Marcella Maler - Bildungswesen

Marcella Maler
Bildungswesen
„Zu allem fähig, aber zu nichts zu gebrauchen.”

 

Wer kennt solche Sprüche nicht zur Genüge? Oder die Formulierung: „stets bemüht“. Niemand möchte so etwas gerne über sich selbst hören, aber treffender kann man unser Bildungssystem kaum beschreiben. Zumindest wenn man kein Verschwörungstheoretiker ist, der an die absichtliche Verdummung des gemeinen Volkes glaubt.
Keine Frage, es gibt sie, die engagierten, rhetorisch bewanderten, fachlich und vor allem sozial kompetenten Lehrer, die einem ein Leben lang in positiver Erinnerung durchs Leben begleiten, und ich hatte sogar das Glück, einige von ihnen kennenlernen zu dürfen, aber einmal ehrlich, die waren bei Ihnen auch in der Minderheit, oder? Es greift aber eindeutig zu kurz, die Schuld den Lehrern in die Schuhe schieben zu wollen. Es bedarf eines vollkommenen Systems, um so am Ziel vorbei eine Wende zu schaffen und das genaue Gegenteil zu erreichen. Erst dieser riesige Beamtenmoloch, der politisch ferngesteuert, jede Veränderung als persönlichen Angriff begreift, den (von diesem System dazu erzogenen) unmündigen Bürgern, die einen Schuldigen für die verortete Misere brauchen und sich von billiger Polemik mitreißen lassen, gegenseitige Pauschalurteile, aber keine Handhabe gegen tatsächliche Fehlentwicklungen, Zwang und Angst vor persönlichen Repressalien zwingen alle Beteiligten in ein Korsett, dass jede Bildungsreform im Keim erstickt.
Blind wird versucht, ein gescheitertes Modell am Leben zu erhalten, aus purem Egoismus, um die eigene Situation vermeintlich nicht zu verschlechtern. Und – auch das muss einmal gesagt sein – auch Eltern sind Teil des Systems. Getrieben von der Angst, dass die Kinder schlechte Chancen in ihrem späteren Leben haben, treiben wir sie in eine Selektionsmaschinerie, die mit zunehmendem Eifer der Eltern immer schlechter zu funktionieren scheint. Die boomende Branche der Nachhilfeinstitute sind der beste Beweis, dass der Lehrauftrag an unseren Schulen teilweise bereits im Volksschulalter nicht das erfüllt, was wir uns für unsere Kinder erwarten. Wir fordern von unseren Kindern gute Noten, um ihnen den späteren beruflichen Einstieg zu erleichtern, übersehen dabei, dass aber das Erreichen einer guten Note häufig zwangsweise das Deaktivieren von Gerhirntätigkeit erfordert. Stures Auswendiglernen ist in diesem System oft leichter, als schlüssige Ergebnisse zu erarbeiten. Blinder Gehorsam sich scheinbar lohnt. Manchmal stelle ich mir nur die Frage, ob wir uns auch das Richtige von den Schülern, aber auch vom Bildungssystem erwarten. Ständig werden Kompetenzen gefordert, eigenständiges Denken, vernetztes Handeln und sonstige Begriffe schwirren durch den Raum, wenn es darum geht, was unsere Kinder für ihren zukünftigen Arbeitsplatz mitbringen müssen.
Aber warum werden sie dann in Institutionen gepfercht, in denen ihnen all dies mit aller Gewalt abgewöhnt wird? Ist es wirklich das, was die Gesellschaft haben will? Benötigen wir nicht eher vertrottelte Sklaven, die unsinnige Arbeit verrichten, um sich unsinnige Dinge leisten zu können, damit wir ein unsinniges System am Leben erhalten können? Dann brauchen wir aber keine Bildungsreform, denn die Vorgaben werden schon übererfüllt. Der Lehrplan lässt keine Zeit für eigenständiges Denken und Hinterfragen. Schulunterlagen werden so gestaltet, dass es selbst (beruflich) vorbelasteten Menschen manchmal schwer fällt, Zusammenhänge zu erkennen, noch dazu, wo viele Unterlagen nur so vor Fehlern strotzen und demotiviertes Lehrpersonal es als ausreichend empfindet, streng nach dem Löser zu unterrichtet, natürlich brav, so wie seinerzeit erlernt. System-müde, desillusioniert und demotiviert suchen sie die paar Vorteile zu nutzen, die ihnen ja auch ständig vorgehalten werden.
Und so gibt es 2013 nach wie vor Volksschüler, die Schillingbeispiele zum Rechnen vorgesetzt bekommen, so manchen Geschichtsunterricht, in dem das WTC immer noch steht, Berufsschulen, die nur Wirtschaftsversager zum Unterrichten der Fachbereiche finden und den Staatsdienst, der seine Aufnahmekriterien an die Bewerber nach unten nivellieren muss. Bald werden in Werbekatalogen nur mehr Bilder zu finden sein. Nicht nur, weil sinnerfassendes Lesen out ist, sondern auch, weil das Gestammel, das dort immer öfter zu finden ist, leider auch von Kundigen nicht mehr übersetzt werden kann. Der deutschen Philosoph und bekennende Pädagoge Michael Schmidt-Salomon meinte: „Ameisen zeichnen sich durch Schwarmintelligenz aus, Menschen durch Schwarmdummheit. Es ist exakt das umgekehrte Phänomen: Während sich aus der individuellen Beschränktheit der Ameisen eine kollektive Intelligenz ergibt, resultiert aus der individuellen Intelligenz der Menschen eine kollektive Beschränktheit: Erst gemeinsam sind wir richtig doof!” Sollten uns da nicht doch endlich mal die Augen aufgehen und wir an einer Bildungsreform, die diesen Namen auch verdient hat, zu arbeiten beginnen?
Wann wird in unseren Breitengraden Bildung wieder zu einem erstrebenswerten Gut?

Marcella Maler
Geb.1974, Schülerin an einer berufsbildenden Abendschule in St. Pölten

Erschienen im etcetera Nr. 54 / blind / Dezember 2013

  mehr...